Hans-Joachim Staude hat an der klassischen Idee der Malerei festgehalten, als viele diese Idee für schon längst überholt ansahen. Wer seine Werke aufmerksam betrachtet, wird die Spuren der Arbeiten und Lehren von Monet, Degas und Cézanne darin entdecken, in den früheren Bildern Motive aus dem Werk des Velazquez, von Hans von Marées, dann wiederum Anklänge an die Bildniskunst der Renaissance, an Piero della Francesca oder Masaccio. Manchmal mag man sich auch an Chardin und Corot erinnert fühlen. Der Kunst der Malerei im klassischen Sinne ihre Würde zu bewahren und zu erneuern, war ihm eine Aufgabe, der er bis zu seinem Tode verpflichtet blieb. So blieb er auch mit den großen Malern der Vergangenheit im Gespräch, ohne jedoch jemals in eine Stilkopie oder gar ein Pastiche dieser Künstler zu verfallen. Die ,Malerei‘ war ihm nicht ein vergängliches kunsthistorisches Phänomen, oder gar eine ,Strömung‘, die in den großen französischen Meistern des ausgehenden 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreicht hatte, der nicht mehr zu übertreffen war. Vielmehr blieb ihm, darin dem französischen Maler Balthus verwandt, die Malerei, das Malen, ein lebendiges, den Wechsel der Zeitumstände überragendes und von diesem Wechsel unangefochtenes Ideal.
Unter ,Malerei‘ wird hier vor allem zunächst die Kunst der ,Transfiguration‘ verstanden, die Transformation eines Stückes der uns umringenden Wirklichkeit in ein Farbgewebe, in ein selbstständiges Gebilde, ein ,Bild‘. Das unverlierbare Interesse an der sichtbaren Erscheinung verbindet sich mit dem Interesse am Bilde als einer Wirklichkeit eigenen Rechts und von eigener Gesetzmäßigkeit – eine Spannung, die Staude in seinen theoretischen Notizen immer wieder umkreist hat. Das Verlangen, der Erscheinung die Treue zu halten und zugleich der Eigenmacht des Bildes oder gar des Schönen zu entsprechen, erforderte einen Balanceakt, den Staude mit jedem Bild aufs Neue vollziehen musste. Es ging ihm nicht um das Kopieren von Naturerscheinungen, sondern, wie er es häufig mit den Worten Cézannes ausdrückte, um „eine Harmonie parallel zur Natur“.
Staude stand als junger Mensch zunächst dem Expressionismus nahe, der ihm eher geeignet schien, zum Kern der Wirklichkeit vorzudringen, als der Impressionismus, der nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit wiedergeben könne. Vor allem die deutsche Spielart des Impressionismus erschien ihm, der ungezügelten Pinseltechnik wegen, als wenig anziehend. Im Geiste von Hans von Marées und Conrad Fiedler, war ihm die ,Einzelanschauung‘ des Wirklichen nur die unterste Stufe, um von dieser zur Darstellung einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit vorzudringen.
Staudes Liaison mit den zeitgenössischen revolutionären Kunstströmungen war jedoch von nur kurzer Dauer. Es waren eine ganze Reihe von Gründen, die ihn dazu veranlassten, diesen Weg nicht weiter zu verfolgen. Neben einer naturgegebenen Abneigung gegen drastische und lärmende Effekte (etwa in der Nachfolge van Goghs) war es vor allem die Überzeugung, dass sich eine eigene künstlerische Sprache nur in der Auseinandersetzung mit einem Widerstand entwickeln kann, in der langsamen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, in der wir Menschen leben. Nur die ,Natur‘ schien ihn vor zwei Gefahren zu behüten, die er vor allem bei seinen Zeitgenossen wahrzunehmen glaubte: der Gefahr, ins Ornamentale zu verfallen und der Gefahr, Opfer eines fix-und fertigen Stilmusters zu werden, etwa einer kubistischen und futuristischen Stilmaskerade. Es gehe bei den ,modernen Bildern‘ häufig „nicht um die Darstellung eines wirklichen Dinges, sondern um die So-Darstellung“, notiert Staude in Aufzeichnungen aus den späten zwanziger Jahren. „Und das ,So‘ ist dazu noch ein ,So-wie-der .'“. Verantwortliches Malen müsse immer wieder von der Sache selbst, der ,Natur‘ seinen Ausgang nehmen, will es nicht in willkürliche Stilisierung entarten. Zwar erwägt Staude häufiger die Möglichkeit, ob die Formgesetze der Malerei sich nicht auch unabhängig von Naturvorbildern, d.h. nichtfigurativ verwirklichen lassen. Seine Instinkte haben ihn jedoch in eine andere Richtung geführt. Die Kunst der Verwandlung lässt sich wohl nur da verwirklichen, wo es etwas gibt, was transfiguriert werden kann.
Man muss bei der Entscheidung Staudes und zahlreicher gleich gesinnter Künstler der Moderne, zur Figuration zurückzukehren oder ihr die Treue zu bewahren, auch die folgenden Dinge im Auge behalten. Zum einen den verwirrenden Pluralismus und die Schnelllebigkeit der Kunstszene der ersten Dezennien des 20. Jahrhunderts. Cézannes Spätwerk war kaum entdeckt, als Braque und Picasso sich anschickten, mit ihren ,kubistischen‘ Bildern die Bildarchitektur zu revolutionieren. Hinzu kam sicherlich auch, dass in diesen Jahren die Spreu vom Weizen noch nicht getrennt war, dass bedeutende Werke der Moderne und Werke von geringerer Kraft nicht ohne weiteres zu unterscheiden waren. Es gab und gibt auch ein Epigonentum der Moderne. Schließlich darf man nicht vergessen, dass die Revolutionäre der modernen Kunst einer älteren Generation angehörten als Staude. Kandinsky etwa war 38 Jahre älter. Auch diese Künstler hatten sich den Weg zu dem, was sie als zeitgenössische Kunst erfuhren, selbst gebahnt. Gerade wer es den Meistern der Moderne nachtun wollte – so konnte man es empfinden – musste nicht bei ihren fertigen Resultaten anknüpfen, sondern den Weg zur Bildfindung aus Eigenem, aus eigener Anschauung begehen. So lag es nahe, ganz im Sinne eines häufiger anzutreffenden psychologischen Mechanismus, gleichsam zur Generation der Großeltern zurückzukehren: der Generation von Hans von Marées, Cézanne und Degas.
Es war jedoch vor allem Staudes Begegnung mit der Stadt Florenz und mit der Kunst des Quattrocento, die ihm das unklar Geahnte und Gesuchte zum deutlich umrissenen Ziel auskristallisierte. Die Kontakte zu dem großen Kunsthistoriker Berenson, der einen scharfen Blick für die plastischen Werte der toskanischen und umbrischen Malerei des Quattrocento entwickelt hatte, die Beziehung zu gleichgesinnten italienischen Malern seines Umkreises (Carena, Cavalli) [1], vor allem aber die Begegnung und Freundschaft mit dem bedeutenden Bildhauer Ludwig Kasper, haben Staude in seiner Zielsetzung bestärkt: die Verwandlung der Wirklichkeit in die, wie Kasper es nannte, ‚große‘, die große selbstgenügsame Form.
Staude hat öfter berichtet, wie eine kurze, nur für wenige Wochen berechnete Studienreise nach Italien sich zu einem dreijährigen Aufenthalt (1925-28) auswuchs, schließlich zu einem lebenslangen Verbleib in dieser Stadt (1929-73). Möglich, dass für Staudes Entschluss, sich definitiv in Florenz niederzulassen, auch die Tatsache eine Rolle gespielt hat, dass die mittelitalienische Landschaft und das hier herrschende Klima den tropischen Gefilden seiner frühen Kindheit auf Haiti näher stand als das kühle Hamburg, in dem er aufgewachsen war. Doch waren andere Faktoren noch wichtiger. Vor allem hatte die Begegnung eines jungen empfänglichen Menschen mit Florenz und der Toskana, mit der Natur und Kunst dieses Landstriches in den zwanziger (ja sogar noch in den sechziger) Jahren des 20. Jahrhunderts den Charakter einer echten Entdeckung [2].
Staude entdeckte nicht nur Kunst und Natur eigenen Gepräges, sondern auch eine Lebensform, oder verschiedene Lebensformen. Eine aristokratisch geprägte, wobei man auch an die geistige Aristokratie im Hause Berenson, Hildebrand, dem Hause von Maja Winteler-Einstein zu denken hat, wie sie in den Florentiner Palästen und Landhäusern anzutreffen war. Daneben eine vornehmlich ländliche oder vom Handwerk geprägte Kultur, in der Einfachheit und Kargheit, nüchterner Witz, Anmut und Gefühl für Abstand sich auf anziehende Weise verbanden. Nicht minder eindrücklich war die toskanische Landschaft. Von Menschenhand geformt und durchgebildet, doch frei von Kleinlichkeit, von Neuerungen verschont, wirkte sie erzieherisch auf den Sinn für Form und schärfte den Blick für das Große und Großartige. Vor allem aber aktiviert diese Landschaft den Farbensinn auf ungemeine Weise. Nicht eigentlich, weil sie in einem landläufigen Sinne pittoresk oder malerisch wäre, sondern des Lichtes, aber auch der vielfach gebrochenen Farbigkeit wegen, die vor allem im Frühjahr, Herbst und auch in den Wintermonaten zutage tritt, und der nur mit den Mitteln der Malerei, nicht aber der Zeichnung entsprochen werden kann.
Nicht zuletzt aber war es die Begegnung mit der Kunst des 14. und 15. Jahrhunderts, die für Staude den Charakter einer echten Entdeckung hatte. Das deutsche Bildungsbürgertum mochte Raphael, Michelangelo, Correggio kennen, die Künstler der Frührenaissance dagegen waren ihm weitgehend Unbekannte. Giotto, Masaccio, auch Ghirlandaio, vor allem aber Piero della Francesca schlugen den jungen Künstler in ihren Bann. Man muss sich hierbei klar machen, dass die Kunst Piero della Francescas in jenen Jahren auch bei den Kennern kaum bekannt war, jedenfalls nicht das überwältigende Prestige genoss, das ihr später zuwachsen sollte. Die ersten größeren Monographien hierzu erschienen erst in den späten zwanziger Jahren. Staudes Entdeckung der Fresken Pieros in Arezzo, seine Versuche, an die Formensprache dieses Malers anzuknüpfen, hatten somit nicht den Charakter des Rückgriffs auf eine etablierte Tradition, vielmehr den Charakter des Innovativen, des Abenteuers, ja des Modernen. Die Entdeckung der großen Kunst des Quattrocento wies Staude den Weg zu einer Verbindung der Extreme des ,Realen‘ und des ,Irrealen‘, die in seinen Augen in der Kunst der Gegenwart vergessen worden war und ihm eine neue Form der ,Modernität‘ zu realisieren möglich zu machen versprach.
Die Entdeckung einer neuen Provinz der Wirklichkeit, eines neuen Himmelsstrichs hatte in jenen Zeiten, in denen sich Staudes künstlerische Intentionen ausbildeten, vor allem für junge Menschen eine gleichsam metaphysische Bedeutung. Für den dichterisch Gestimmten und künstlerisch Empfänglichen (vor allem, wenn er mit der deutschsprachigen Welt vertraut war und Rilkes ,Florenzer Tagebuch‘ gelesen hatte) galten die Werke der Kunst und die Schönheiten der Natur nicht nur als angenehme Beigaben, die das Leben verschönten. Vielmehr erfuhren er an ihnen einen Anspruch sowohl ethischer als auch metaphysischer Art. Die europäische Romantik, Schopenhauer und Nietzsche hatten die Kunst zur eigentlich metaphysischen Tätigkeit erklärt. Und diese Überzeugung hat auch das Selbstverständnis Staudes, wie übrigens auch vieler Künstler der Avantgarde, geprägt. In den großen Kunstwerken, in den Produkten der Natur, dem Schweigen der Landschaft, in der menschlichen Gestalt und dem menschlichen Antlitz zeigte sich das Menschheits- und Daseinsrätsel, oder mochte sich gar vielleicht für die Spanne eines Augenblicks enthüllen. Wer sich, wie der Maler, vorbehaltlos den sichtbaren Erscheinungen hingab, und sie zu entziffern versuchte, war diesem rätselhaften und großen Zusammenhange auf der Spur.
Seit dem Ende der zwanziger Jahre bis zu seinem Tode wohnte Staude zuerst allein, später mit Frau und Kindern, in einem Hause auf den Hügeln am südlichen Stadtrand von Florenz, Villa Strozzi-Machiavelli (später: Villa Fossi) in der Via delle Campora. Eine hoch aufragende Villa die, um einen quadratischen mittelalterlichen Wehrturm herumgebaut, hart an der früher wenig befahrenen Straße gelegen ist.
Noch in den sechziger Jahren breitete sich hinter der Villa Bauernland aus. Eine knappe halbe Stunde Fußweg vom Zentrum entfernt, hatte man hier draußen die Stadt weit hinter sich gelassen. Man befand sich in ländlicher Stille, die nur ab und zu von einem passierenden Auto oder einem Motorroller oder der charakteristischen Signalhupe eines fernen Autobusses unterbrochen wurde. Während die Stadt von Besuchern überströmte, verirrte sich nach hier oben wirklich niemand. Die von der Sonne beschienenen Gärten und Felder, die man aus dem ersten Stockwerk erblickte – von der Straße aus waren sie durch Mauern den Blicken entzogen -, bildeten einen überraschenden Gegensatz zu dem steinernen – steingepanzerten – Stadtkern, der für viele toskanische Städte charakteristisch ist. Ein harter Kern, den das Grün der Gärten, der Parks, Felder und Olivenhaine umgibt, ein Kontrast, der zugleich Ergänzung ist.
Aus dem Esszimmerfenster ging der Blick auf das Bauernhaus gegenüber, und im Hintergrund Villa le Campora, ein mittelalterliches Kloster mit seinen Arkaden. Lehnte man sich weit hinaus, sah man in das flache Bachtal hinüber, das sich weit nach Süden hinzog. Von Zäunen unbehindert, konnte man hier spazieren gehen. Man war, wie in der Kindheit, wieder auf dem Lande und trödelte am Bach entlang, an Weidenbäumen vorbei. Im Frühjahr war das ganze Gefilde von Frühlingsblumen üersät – wilden Narzissen, Tulpen: ein bäuerliches Paradies, wie von Dante beschrieben. Gegen Süden erhoben sich Hügel auf deren Rücken eine Karawane von Pinien tagaus tagein weiter zog.
Die Bauern in dem Gehöft gegenüber waren Freunde des Hauses. Ihre Tochter Adriana, ein junges Mädchen von sphinxhafter Verschlossenheit, hat Staude in zahlreichen seiner schönsten Pastelle und Gemälde verewigt. Die Bauern sind inzwischen fort, die Bauernhäuser an der via delle Campora mehr oder weniger gelungen iin Vorstadtvillen umgewandelt. Doch ist nicht alles verloren. Der Anblick, der sich vom Esszimmer aus vor allem im Frühling bot, ist immer noch (wie beim ersten Male) unvergesslich. Der Dreiklang vom Dunkelbraun der frisch gepflügten Felder, dem Smaragdgrün der Vorjahrswiesen und der in Reihen geordneten leuchtendgrünen Weinstöcke, und dem körperlosen Grau-Grün der Olivenbäume hat seine unvergleichliche Anziehungskraft bewahrt. Im August ist der Blick ein anderer. Öffnet man mittags die Fensterläden, so flammen die Bäume in weißem Feuer, in der Silberglut des Sommers.
Die ländliche Stille umfing einen schon, kaum hatte man die viel befahrene via Senese verlassen und den Weg bergauf angetreten: ein steiler und steinerner Weg. Kein Grashalm wächst auf diesem Steinpflaster, das mit den Mauern rechts und links einen unverbrüchlichen, einen gleichsam hermetischen, steinernen Zusammenhang bildet. Man geht wie zwischen den Mauern eines ausgetrockneten Kanalbetts, und sieht nur die Zweige der Olivenbäume, Zypressen, eine Toreinfahrt, einen Dachfirst. Im wesentlichen jedoch ist es ausgeschlossen, den Blick rechts oder links frei schweifen zu lassen, und ebenso unmöglich ist es, die Gedanken frei sich ergehen zu lassen. Der Weg, von diesen Mauern eingefasst, hält auch das Denken fest umschlossen. Unabgelenkt vermag man nur an das zu denken, was hinter einem liegt und vor allem an das, was einen erwartet. So scheint es fast, als wäre man hier mit seinem Lebenswege allein. Diese Straße hat Staude auf dem Wege zu seinem Atelier in der Via die Serragli 148 und zurück unzählige Male durchmessen. Ihr Ernst und ihre Schönheit sind seinem Werke, das in steigender Isolierung und Vereinsamung entstanden ist, angemessen.
Das Ziel dieses Weges waren die gegen die Hitze verdunkelten Räume in den oberen Stockwerken. Im Musikzimmer der Flügel, auf dem Staude Abend für Abend spielte. Er stand vor einem einsamen, sehr hohen Fenster, in dem der leere Abendhimmel aufgespannt war: ein leeres Lichtbild im ansonsten dunklen Raum.
Staude hat sich sein Leben lang ausschließlich als Maler begriffen. Zwar gibt es zahlreiche Zeichnungen von seiner Hand, Studien und Vorzeichnungen, doch war ihm die Zeichnung nur Mittel zum Zweck. Die Skizze, die Kunst des raschen Zugriffs, war seine Sache nicht, alles Schmissige und nur Brillante zumal war ihm zuwider. Die Malerei war für ihn eine langsame Kunst, ja die Kunst der Langsamkeit, der Verlangsamung, die ihre Sujets zum Stillstand oder besser zu dauerhafter Gegenwart bringen sollte. Von alters her gilt die Kunst der Malerei als eine Kunst des langen Atems, der eingehenden Beobachtung, der langen Vorbereitung. Aus der bedachtsamen Überlagerung von Farbschichten, aus Grundieren und Übermalen – und Malerei ist wesentlich die Kunst der Übermalung – tritt im Farbgewebe (,tessuto‘, ein Ausdruck den Staude gerne gebrauchte) der Gegenstand in Erscheinung. Es ist diese Verfahrensweise, die dem Bild eine sowohl räumliche als auch zeitliche Tiefendimension zu geben vermag. [3] Die „oberflächliche Sensibilität der Handschrift“ versuchte Staude zu vermeiden, wie er zu seinen Pastellen bemerkt. „Sensibel“, so notiert er, „ist in dieser Kunst nicht die Art und Weise der Niederschrift, sondern das langsam und vorsichtig vorbereitete Endresultat der letzten farbigen Schicht.“
Staude hat wiederholt versucht, seine eigene Malerei in Bezug auf andere Künstler zu lokalisieren. Mit Hans Purrmann verbanden ihn freundschaftliche Beziehungen, auch in den Sujets gibt es Übereinstimmungen, in Diktion und Temperament sind beide Künstler allerdings sehr verschieden. Die ,große‘, plastisch gedachte Form, wie sie Staude gemeinsam mit Kasper suchte, war nicht Purrmanns Anliegen. Neben Kasper kommt immer wieder Cézanne zur Sprache. Staude schreibt über seine Arbeiten: „Versucht man die Vorfahren dieser Malerei zu nennen, so kommt man auf den Namen Cézanne, dem die durchgängige klare kubische Formulierung, die sich aus Farbbeziehungen ergibt, […] zu verdanken ist.“ Cézannes „klare Volumetrik“ habe Vorläufer insbesondere in den Köpfen der frühen Italiener des Quattrocento, aber auch in den Figuren, wie man hinzufügen möchte, von Piero della Francesca. Von den „theoretischen Absichten“ Carl Hofers sei „besonders in den Figurenbildern [Staude bezieht sich hier auf seine eigenen Pastelle] manches erhalten […], ohne Hofers, Verarmung‘ im Klange mitzunehmen“. Das Streben nach koloristischer Klangfülle verbinde Staude mit Cézanne, auch wenn die Behandlung der Flächen nicht „die vielfältige Facettierung aufweist“, wie dies bei Cézanne der Fall sei – siehe etwa Lesender junger Mann im roten Hemd.
Diese Bemerkungen, vor allem die letzte zu Cézanne, sind äußerst aufschlussreich für Staudes künstlerische Intentionen. In einem Gespräch gab er einmal zu verstehen, dass er Cézanne in seiner Auffassung von Licht und Schatten, seiner Elimination des Schattens, nicht folgen könne. Zwar versuche auch er, im Geiste Cézannes (und Degas), die Modellierung von Licht und Schatten in Farbbeziehungen zu übersetzen, ohne jedoch sich so weit vom Natureindruck zu entfernen, wie dies bei Cézanne der Fall war.
Staude spricht von der Facettierung der Flächen bei dem französischen Maler und verrät dabei, dass sein Formverständnis ein anderes ist als das seines großen Vorbilds. Das Volumen, das Einzelding oder das Ensemble von Einzeldingen als mehr oder weniger geschlossenen Masse, ist der Ausgangspunkt Staudes geblieben, während bei Cézanne sich die geschlossene Massen in Farbrelationen auflösen, die allerdings ganz anderer Art sind als bei den Impressionisten. Bei Cézanne werden nicht eigentlich geschlossene Volumina facettiert, d.h.: wie Diamanten geschliffen; das gilt eher für den frühen Kubismus von Braque und Picasso; vielmehr werden die Dinge ganz aus der Farbe, einer freien, weitgehend unschematischen Textur von Pinselstrichen, neu erzeugt, und zwar unter weitgehender Vermeidung eines illusionistischen Raumeindrucks. Cézanne hat daher auch nicht mehr von der Modellierung der Form, sondern von der Farbmodulation gesprochen; von Farbreihen und Farbvariationen, die sich in Bändern paralleler Pinselstriche entfalten und die häufig über die Dinggrenzen hinausreichen. Staude dagegen modelliert eher mit der Farbe, einer Farbe, die vor allem in den späten Werken zu großer Leuchtkraft emanzipiert ist, ohne in Selbstherrlichkeit zu verfallen. Chromatischer Reichtum und die Klärung der Volumina und der Massen zu einer Art leuchtender „Volumetrie“, sind für zahlreiche, bedeutende Werke Staudes charakteristisch.
Es ging Staude aber nicht nur um den Reichtum der farbigen Erscheinung, die bis zur Dissonanz fortschreiten kann, sondern ebenso sehr um die Erzeugung eines farbigen Gleichgewichts. So liebte er es, vor allem bei Landschaftsbildern, dem Usus der alten Italiener folgend, die Leinwand rot oder braunrot zu grundieren, wodurch das Grün von Bäumen und Landschaft einerseits gebrochen und andererseits gesteigert wird. Bei Porträts wiederum lässt er gerne die grüne Untermalung durchschimmern. Er schreibt hierzu (Notizblock 37): „Wie ich zum Grün das Rot suche, so suche ich im Himmelsblau das Rosa, die Grüntöne, so suche ich das Grün im Rot der Dächer.“ Staudes Kunst der Chromatik entfaltet sich zu einer Kunst des ‘kleinsten Übergangs‘ (ein Ausdruck, den Adorno für die Musik Bergs geprägt hatte) und der chromatischen Totalität. „Licht und Schattenmasse, wie sie in den zahlreichen Straßenbildern gegeneinander ausgespielt werden, sind immer als farbige Beziehungen empfunden, deren Valeurunterschied sich immer mehr verkleinert“. Diese Technik führt zu erstaunlichen Resultaten, etwa zu Werken von verhaltener Farbigkeit, vielleicht gar ,Tonigkeit‘, die bei näherer Betrachtung eine unerschöpfliche chromatische Vielstimmigkeit und Leuchtkraft zutage treten lassen – siehe etwa das verhaltene Pastell Venedig im Regen.
Staudes Verständnis von Farbe und Form hängt vor allem mit seiner Auffassung des Lichts zusammen. Auch hier ist wiederum der Vergleich mit Cézanne aufschlussreich. Bei Cézanne herrscht die Tendenz vor, das Beleuchtungslicht, das natürliche Licht, zu eliminieren, bzw. das Naturlicht in das Licht der Malerei zu transformieren. Daher die große Leuchtkraft seiner Bilder, in denen die ,Dinge‘ aber kaum mehr als vom Licht, vom Sonnenlicht beschienen wirken. Staudes Passion gilt dagegen gerade dem Beleuchtungslicht, und zwar ausschließlich dem natürlichen Licht. Unermüdlich geht seine Bilderwelt den Schicksalen des Lichtes nach, seinem Aufleuchten, seinem Verdämmern, das bis zum Erlöschen gehen kann. Diese Leidenschaft für das Licht auf den Dingen, das sich in ein Licht in den Dingen transformieren kann, verbindet Staudes Intentionen, aller Unterschiede unbeschadet, mit Morandi. (Dieser bekannte, dass für ihn wichtiger als die Gegenstände seiner Stilleben, der Staub und das Licht auf den Dingen gewesen sei).
Staudes Formauffassung ist mit dieser seiner Liebe für das Spiel des Lichtes verbunden. In Aufzeichnungen und Gesprächen hob er häufig den abstrakten, den nicht-figurativen Charakter seiner figurativen Kunst hervor. Es ist eine Abstraktion, die jedoch der Natur abgelauscht ist, eine Abstraktion, eine Vereinfachung der Form, die das Licht an den Dingen selbst vollzieht. Dies führt uns in das Zentrum von Staudes künstlerischen Absichten. Das Streben nach Größe der Anschauung, nach der großen Form im Sinne von Marées und Kasper, zielt auf Verewigung. Es zielt darauf, die Dinge, Menschen Landschaften in etwas Dauerhaftes und Bleibendes zu verwandeln. Doch dringt mit der schweigenden Sprache des Lichtes in diese Welt der Dauer auch die Zeit ein und damit Veränderung und Vergänglichkeit. Diese Verschränkung der Tendenz auf Verewigung mit dem Bewusstsein der Flüchtigkeit und Zerbrechlichkeit ist vielleicht Staudes Eigenstes, jedenfalls einer der wesentlichen Aspekte seines Werkes. Darum war das Licht ihm das Entscheidende in der Malerei, das Licht in seiner doppelten Eigenschaft: den Dingen eine gesteigerte Wirklichkeit zu geben, wie auch als verdämmerndes, sie ihnen wieder zu nehmen.
Die von Staude zur Meisterschaft geführte Kunst der Pastellmalerei kommt diesem Bestreben in besonderem Maße entgegen. Denn die Kunstform des Pastells ist eine der flüchtigsten. Pastelle sind äußerst empfindlich, wie Schmetterlingsflügel, und nur schwer zu bewahren und zu konservieren. Andererseits kann das Pastell an gewisse Wirkungen der Monumentalmalerei, der Wandmalerei erinnern. (Man denke etwa an Staudes Figurenkompositionen aus der Serie der Cascine (des Stadtpaks von Florenz), oder an den Stehenden Jungen, siehe Galerie) Wie beim Fresko, ist auch beim Pastell die Oberfläche, auf die Kreidestriche aufgetragen werden, rauh und uneben. Damit der Kreidestaub haftet, muss man sich langfaseriger Papiere oder Pappen bedienen, die meistens schon in einem bestimmten Ton eingefärbt sind. Staude bevorzugte ein neutrales Grau, um hierauf seine Farbenspiele zu entfalten und seinem Streben nach Vereinfachung der Form zu genügen.
Das Pastell hat jedoch noch andere Eigenschaften, an die wir erinnern müssen. Zum einen ist die Pastellkreide frei vom (gelegentlich aufdringlichen) Glanz der Ölfarbe. Die Farben sind eher verhalten, wodurch jedoch gerade überraschende farbliche Steigerungen ermöglicht werden (siehe z.B. Das kleine weiße Haus in Rom, Galerie, oder San Geremia am Morgen nebenstehend und in der Galerie). Zum andern eignet dem Pastellstaub eine schimmernde Qualität. Vom Licht gestreift, entfalten die Farben ein ihnen ganz eignes Leuchten.
Ganz anders das Licht beim Aquarell, etwa im Sinne Cézannes. Für das Aquarell als physischen Gegenstand spielt das Licht als Beleuchtungslicht nur eine untergeordnete Rolle. Die Hauptrolle spielt beim Wasserfarbenbild das weiße abstrakte Licht des Papiers, das durch die transparenten Farben hindurch scheint oder ganz bloßliegt, wodurch das Werk selbst sich in eine Lichterscheinung verwandeln kann und darin zu mehr wird als zu einer Darstellung hiervon. Für Staude ist, anders als für Cézanne, wie wir sahen, die Verteilung von Licht und Schatten auf den Dingen unangefochtener Gegenstand der Malerei geblieben. Dieses Interesse (am gegenständlichen Licht) findet jedoch auch seine Entsprechung in den physischen Eigenschaften des Pastells. In seinem Schimmer und Schmelz vollziehen sich am Medium jene Schicksale des Lichts, die zugleich Thema von Staudes Malerei gewesen sind. So sind auch Staudes Pastellgemälde nicht nur Darstellung von Licht. Vielmehr verselbständigen sie sich, wie die von Cézanne, sei es auch in anderer Weise, zu einer Licht- und Farberscheinung eigenen Rechts. Die Zugehörigkeit dieser Kunst zur Moderne mag hiermit zusammenhängen.
Im Zusammenhang mit Staudes Pastellen muss jedoch neben Cézanne noch ein anderer Name genannt werden, Degas. Degas hat das Pastell, nachdem es im 19. Jahrhundert langsam in Vergessenheit geraten war (Constable, Delacroix, Turner, Menzel haben sich dem Pastell doch eher nur gelegentlich gewidmet) zu neuer Vollendung geführt, ja überhaupt einen neuen Begriff der Pastellmalerei geschaffen. Ohne das Vorbild Degas‘ wäre Staudes Pastellkunst wohl kaum denkbar. Ein kurzer Blick auf die Geschichte der Pastellmalerei und der Pastellzeichnung mag das Besondere von Degas‘ Arbeitsweise erhellen.
Die bedeutenden Pastellkünstler des 18. Jahrhunderts Maurice Quentin-La Tour, Liotard, Perronneau u.a. waren vor allem Porträtisten, meistens reisende Künstler, die der wachsenden Nachfrage nach Porträts auf schnelle und verhältnismäßig unaufwendige Weise zu entsprechen vermochten. Maurice Quentin-La Tours Pastelle geistreich lächelnder Gesellschaftsmenschen sind wesentlich zeichnerisch konzipiert und scheinen den Protagonisten gleichsam im Momente seines Eintritts in den Salon festzuhalten. Ganz anders der Schweizer Liotard, der ganz im Sinne eines Malers nach Abrundung der Form und einem geschlossenen Farbenspiegel strebt. Die unkonventionelle Farbigkeit seiner Arbeiten (die gelegentlich an Staude erinnert) überrascht ebenso wie das große modern wirkende, offenbar vor dem Sujet (einer Schweizer Landschaft) entstandene Landschaftspastell im Amsterdamer Rijksmuseum. Auch die wenigen sehr bedeutenden Porträtpastelle von Chardin stehen in ihrer malerischen Verdichtung schon modernen Auffassungen nahe.
In den Pastellarbeiten des 19. Jahrhunderts überwiegen wiederum zumeist die zeichnerische Komponente und der Skizzen- und Studiencharakter. Erst Degas entwickelt das Pastell weiter und schafft geradezu eine neue Gattung der Malerei. Anders als Manet in seinen Pastellen, die allerdings wohl mehr Gelegenheitsarbeiten sind, gelangt Degas zu einer innigen Verschränkung von Malerei und Zeichnung [5]. Die Pastelltechnik Degas‘ „geht vom Strich aus, und nicht etwa […] von der farbigen Fläche“. Er beschreitet „nicht den Weg über die farbige Illusion, sondern über ein Linienspiel von sich ergänzenden und bekämpfenden Strichsystemen“. Aus der Überlagerung und Verschränkung dieser Strichlagen ergibt sich eine dichte koloristische Struktur, die dem Wesen der Malerei viel mehr entspricht als etwa ein Gemälde von van Gogh, der mit dem Pinsel häufig eher zeichnet, als dass er malte. Die ständige Überformung führt bei Degas zu freskenhaften Wirkungen. Die vertikalen gerinnselartigen Strichlängen erwecken manchmal den Eindruck, als liefe ein Schauer über die Oberfläche der Pastelle.
Obschon Staudes Pastelle durchsichtiger in der Faktur sind als die des späten Degas und er von anderen Formvorstellungen geleitet war, bleibt auch für Staude das Ideal malerischer Verdichtung bestimmend, die aus der Bündelung und Überkreuzung vertikaler oder horizontaler Schraffuren erwächst. Der Pastellstrich erlaubt dem Künstler, anders als Ölfarbe oder Acryl, ein Maximum an farbiger Komplexität und Beweglichkeit mit formaler Geschlossenheit und, wenn nötig, farblicher Zurückhaltung oder auch farblicher Steigerung zu verbinden. Ein Pastell, wie etwa Venedig im Regen (oben), in der Farbe zunächst verhalten wirkend, offenbart sich als ein Kosmos gleichsam virtueller Farbigkeit, in dem sich die mannigfachsten Farbwerte: Orange, Lachsrosa, Graublau, Türkisgrün, Lila, in vielfachen Varianten kombinieren, ohne dass je der Eindruck des Bunten entstünde. Gelegentlich kann Staude auch den Pastellstift in seiner ganzen Breite benutzen, um geschlossene Farbbahnen von großer Leuchtkraft zu erzeugen – siehe Das kleine weiße Haus und Campo San Barnaba.
In der Emanzipation der Farbe, der Kühnheit der Farbkombinationen in den späteren Werken liegt einer der Gründe für Staudes Modernität. Sein reiches Pastellwerk, das sowohl Landschaften und Stadtlandschaften, als auch Figurenbilder und Porträts umfasst, gehört zweifellos zu den bedeutendsten dieser Art im 20. Jahrhundert.
Porträt und Figurenbild nehmen im Oeuvre Staudes einen wichtigen Platz ein. Seinen klassischen Vorgaben gemäß bleiben ihm Gestalt und Antlitz des Menschen einer der wichtigsten Gegenstände der bildenden Kunst. Freilich handelt es sich um Vorwürfe, die der künstlerischen Freiheit und dem freien Spiel der Farbe gewisse Beschränkungen auferlegen, schon der zum Porträt erforderlichen Ähnlichkeit wegen.
In Staudes Porträts und Figurenbildern lässt sich oftmals eine Tendenz zur skulpturalen Isolierung feststellen, die persönlicher Neigung, aber auch dem Einfluss des Bildhauers Kasper zu verdanken sein mag. Junger Mann mit Melonen etwa, ist bei aller Schönheit der Farbe von nahezu statuarischer Unbeweglichkeit, von der Einsamkeit und Verschlossenheit der Statue. Dies gilt auch für den Jungen Mann mit der Stange (Venedig 2015), in dem wir aber vor allem ein ins Zeitgenössische gewendetes Echo von Pieros Fresken in Arezzo wahrnehmen können. Manchmal wird, offenbar in der Nachfolge Cézannes, die Grenze zur Ausdruckslosigkeit und zur Verdinglichung gestreift. Besondere Aufmerksamkeit verdient das Bildnis eines Schornsteinfegers aus der Sammlung des Palazzo Pitti. Es stellt einen gleichsam traumbefangenen Riesen vor uns hin und ist besonders schön gemalt, in der für Staudes Frühzeit charakteristischen Durchsichtigkeit der Malweise.
Bei näherer Betrachtung erweist sich die Skala der Ausdrucksmöglichkeiten in Staudes Kunst der Menschendarstellung als reich differenziert. Doch bleibt der Grundton der Einsamkeit seiner Menschen vorherrschend. Neben Werken herben und eher nüchternen Zuschnitts (etwa das Selbstporträt mit Baskenmütze (Galerie), das Bildnis der Signora Vaggagini, das bedeutende Porträt des Dichters Gino Gerola) – alles Bilder von großer sachlicher Bestimmtheit, allerdings ohne die Schärfe der Neuen Sachlichkeit –, steht ein mondänes Bildnis wie das der Nicky Mariano (Galerie), die Bernard Berensons Haus führte. Der perlmuttfarbene Schimmer gibt dem leider nicht zum Abschluss gebrachten Gemälde einen besonderen Reiz. Eine eher beinahe rücksichtslose Variante von Staudes Porträtkunst ist das Porträt des Jungen Mannes mit roter Weste (Venedig 2015), der, von unten aufgenommen, den Betrachter mit schweren Blicken misst.
An die spätantike Bildniskunst der Mumienporträts von Fayum oder an Bildnisse der Renaissance wiederum erinnern die Porträts von Felice, einem Fleischergesellen aus der Umgebung. Es war für Staude ein besonderer Reiz, in Italien jenem Menschentypus in natura anzutreffen, dem man in den Werken der großen Meister begegnen konnte. Kunst und Wirklichkeit gingen hier ineinander über. Hans von Marées hat dieselbe Erfahrung in einem Brief aus Florenz an den Grafen Schack ausgedrückt: „Denn trete ich aus den betreffenden Kapellen hinaus, so sehe ich in unmittelbarer Nähe, vor den Altären, hinter den Pfeilern, an den Türen dieselben Gestalten lebend, die jene alten Meister gebildet haben“ [6].
In besonderer Weise gilt das für die Bildnisse der Adriana, jener bereits erwähnten Bauerntochter aus der Umgebung, die Staude zu zahlreichen Gemälden und Pastellen von klassischem Gepräge inspiriert hat (hier oben und Galerie). Schönheit, Stolz und Verschlossenheit haben sich in ihr wie in einem Rätselwesen vereinigt, durch das Staude sich immer aufs Neue angezogen fühlte. Staude stellt seine Menschen häufig mit unzugänglichem, abgeblendetem, manchmal gesenktem Blicke dar. So hat er seiner Spanierin (Galerie) jenen für ihn typischen, dunklen Rätselblick verliehen, das sich nicht entschleiernde Auge, das einen wie aus dem Visier des Gesichtes entgegenblickt. Auch die sehr schönen Bildnisse der Giuseppina aus den 30er Jahren weisen jene Eigenschaft des sich nicht ganz offenbarenden Blickes auf.
Daneben stehen jedoch Bildnisse, die einen gerade durch Offenheit und Direktheit der Konfrontation beeindrucken. Ein besonders schönes Beispiel hierfür bietet das Dreierbildnis von Vasco, Germaine und Felice mit den beiden vom Betrachter abgekehrten jungen Männern und der jungen blonden Frau in der Mitte, die dem Betrachter unverwandt entgegenblickt, mit einer anziehenden Mischung von Ernst und Heiterkeit im Gesicht. Das Bildnis der Derna Macchioro gehört ebenso hierher wie das Pastell-Bildnis des Roboamo Poli (Gallerie) mit dem scharf geschnittenen toskanischen Raubvogelkopf, der einen aus eisblauen Augen anblickt. Ebenso beeindruckt einen das Bildnis eines Hippy am Tisch durch Bestimmtheit des Blicks und die freie, reiche Malweise. Von ähnlicher Qualität in der malerischen Durchführung ist auch das Bildnis des Paolo Pecile (Berlin 2001, Bild 95 ). Die zahlreichen Darstellungen von Angehörigen der Hippy-Generation aus den 60er und 70er Jahren haben Staude besonders beschäftigt – siehe Hippy am Tisch. Hier fand er die Möglichkeit, ohne historistische Anleihen einen unkonventionellen Menschentyp der Gegenwart (‚i capelloni‘ – die Langhaarigen) mit dem der Renaissance zu verbinden.
Dieses Spiel mit Formen der Vergangenheit in der Gegenwart können wir häufiger bei Staude antreffen. Etwa das hochformatige Pastell eines blonden Stehenden Jungen in kurzen Hosen (Galerie), das in Farbgebung und der Strukturierung des Hintergrundes an pompejanische Fresken, jedoch auch an Bildnisse der Renaissance erinnert. Oder die Büste eines Kleinen Mädchens in Rot (in der Art eines Brustbildes der Frührenaissance), das allerdings ohne das Selbstbewusstsein der Menschen des 15. Jahrhunderts, vielmehr eher schüchtern über eine der bildtypischen Brustwehren hervoräugt (Berlin 2001, Bild 60).
Auch in den freien Figurenbildern können wir Staudes Auseinandersetzung mit der Tradition wahrnehmen. In der frühen Komposition Venus im Wald (Galerie), das Echo der Venezianer und von Hans von Marées: Dieses Bild schlägt außerdem das klassische Thema der arkadischen Landschaft an, das Staude in seinen Darstellungen von Figuren in Le Cascine, dem Florentiner Stadtpark, in weniger traditionsgebundener Form wieder aufnehmen wird. Reminiszenzen an Velazquez‘ Bodegones weist der Junge Mann am Tisch mit Eiern auf (Venedig 2015). Das Figurenbild Junge Leute auf der Piazza di Porta Romana von 1930 (Galerie) wiederum variiert Elemente aus den Fresken des Masaccio in Santa Maria del Carmine.
Schließlich aber sind an dieser Stelle die Selbstporträts zu nennen. Sie gehören zu den anziehendsten ihrer Art im 20. Jahrhundert. Sie beeindrucken gleicherweise durch ihre malerische Kultur, wie durch Wahrhaftigkeit und jeglichen Mangel an Selbststilisierung. Das späte bedeutende Selbstbildnis mit Staffelei (Galerie) stellt den Künstler abgemagert, einsam, in giftigen Grün- und Blautönen dar, vor sich die Gegenstände, die sein Leben bestimmt haben: Staffelei und Leinwand.
Es bedarf der Geduld, intimer Vertrautheit und eines scharfen Blickes für Licht, Farbe und Formensprache einer Stadt, um ihr Gepräge im Bilde festzuhalten. Staudes Darstellungen von Florenz und Rom, vor allem der florentiner und römischen Vorstadtstraßen, seine Venedigbilder stehen in der Kunst des 20. Jahrhunderts ziemlich einzigartig dar. Die großen Stadtansichten Kokoschkas verfolgen ganz andere Absichten: Es sind großartige Panoramen von barocker Weiträumigkeit, aus der Vogelperspektive aufgenommen, und nicht aus der Perspektive des Fußgängers und des Bewohners. Verwandtschaften dagegen bestehen mit den impressionistischen Städtebildern, auch mit Marquet und Utrillo, obschon die Formgesinnung eine recht andere ist. [7]
Die Paris-Bilder Monets, Pissarros und anderer, die das neue Paris, das Paris der neu entstandenen Boulevards festgehalten haben, waren mehr denn eine bloße Wiedergabe des Aussehens dieser Stadt. Vielmehr scheint es, als hätten diese Maler Paris zu allererst sein Gesicht gegeben und uns seine spezifischen Farben und sein Licht zu Bewusstsein gebracht: das silbrige Licht, das Grau-Blau der Zinkdächer, das sommerliche Laubgrün und die blonden bis weißlichen, schimmelfarbenen Fassaden, die Boulevards mit ihrem Menschengewimmel. Wir sehen die Stadt Paris immer noch mit den Augen dieser Maler. Auch von Staudes Hand gibt es ein Paris-Pastell, das einem viel gemalten Motiv ein neue frische Anschauung abzugewinnen vermag: die Darstellung der Kathedrale von Notre-Dame de Paris erinnert unversehens an New York, an die Neogotik des Woolworth Building etwa.
Das Gesicht der Stadt Florenz dagegen hat seine eigene Jahrhunderte alte resolute Bestimmtheit und Monumentalität, bei der die Maler häufig das Nachsehen haben. Die Kunst der Vedute im Stile Canalettos konnte den Geist dieser Stadt kaum vermitteln. Am ehesten kommen die Architekturkulissen der Maler des Quattrocento dem Wesen dieser Stadt nahe: Architektur von fast mönchischer Kahlheit und Nüchternheit. Doch handelt es sich hier lediglich um Szenenbilder, in denen die florentinischen Maler die von ihnen erzählten Geschichten sich abspielen lassen. Manche spätere Versuche im Genre des reinen Städte- und Straßenbildes haben nicht die Prägekraft der impressionistischen Paris-Porträts entwickelt.
Es war vor allem Staude vorbehalten, Ikonen der Stadt Florenz zu entdecken und zu entwickeln, die ihrem Wesen angemessen sind. Sein Sinn für geschlossene Formen im Zusammenhang mit seiner hoch entwickelten Sensibilität für Farbe und Licht kam dem Wesen dieser Stadt besonders nahe. Fast scheint es, als habe er ihr, inzwischen durch Tourismus und Verkehr entstelltes, Gesicht zu allererst sichtbar gemacht. Während viele Darstellungen der Stadt Florenz (auch die von Corot, die das Flaggschiff des Domes in den Mittelpunkt stellt) den Eindruck erwecken, ihr Licht und ihre Formen in einen ihr wesensfremden Dialekt zu übersetzen, scheinen Staudes Bilder aus dem Stoff, dem Staub und den Farben der Stadt selbst geformt zu sein und deren eigene Sprache zu sprechen. Es ist eine diskrete, zurückhaltende und leuchtende Sprache, die Sprache schweigsamer Mauern, deren Strenge durch hervorblickendes Laubwerk gemildert wird. Die Mauern, stillen Straßen und ungesprächigen Hausfassaden sind jedoch nicht der eigentliche, jedenfalls nicht der einzige Protagonist von Staudes Bildern: Vielmehr ist es das Licht, das kühle Licht des Morgens, das blendende Mittags- und Nachmittagslicht, das verdämmernde Herbstlicht, das hier die Hauptrolle spielt.
Gleichwohl ist die hier geschilderte Welt keine Welt, in welcher der Mensch gleichgültig ist. Obwohl Staude alle anekdotischen Zufügungen und Ausflüge ins Pittoreske vermeidet, ist der Mensch auf seinen Bildern nicht abwesend. Anders als bei Cézanne, dessen Landschaften menschenleer sind, werden Staudes Straßenperspektiven gelegentlich durch einsame Figurinen belebt, die deutlich machen, dass die Stille, das Schweigen, kein absolutes ist, sondern das Schweigen der noch menschenleeren oder zur Mittagstunde wieder leeren Straße, die den Zauber des noch nicht Betretenen und Morgenfrischen oder aber des Verlassenen oder gar Verödeten hat.
Staude hat den Erdfarben der Stadt Florenz und ihrer Mauern eine ungeahnte Farbigkeit entlockt (Galerie; Berlin 2001, Bilder 14-20, 22-24, 27, 40-44). Die Erdfarben, die Lehmfarben der Stadt, sind das neutrale Substrat, auf dem das Licht seinen ganzen Zauber entfalten kann. Südländische Städte, das südländische Licht lassen uns die Farbigkeit des ,Nichtfarbigen‘ entdecken: Bei entsprechender Beleuchtung kann das stumpfe Braun einer Mauer sich zu einem ganzen Spektrum von Farben entfalten: glühendes Rostrot, Ocker, Orange, Rosa, Violett, tiefes Schattenblau. All dies kann aus den Alltagsfarben, im Spiel von Licht und Gegenlicht, von Schein und Widerschein zum Vorschein treten. Hierbei handelt es sich nicht nur um Beleuchtungsfarben und Beleuchtungslicht, sondern um ein Licht, das von den Mauern selbst ausgeht, die sich geradezu in eine leuchtende Farbmaterie zu verwandeln scheinen und eine farbige Atmosphäre um sich verbreiten. Die Kunst des Pastells, wie sie von Staude gehandhabt wird, ist mit diesen Erscheinungen auf besondere Weise verwandt.
Staude hat das monumentale Florenz und seine bekannten Motive, die Domkuppel, den Palazzo della Signoria in seiner Malerei nicht ganz gemieden, doch tritt es in seinen späteren Werken eher in den Hintergrund. Ein Blick auf Florenz aus dem Jahre 1967 stellt eine wie aus sich selbst bewegte Kulisse von Zypressen in den Vordergrund, hinter dem das Florenz der Kuppeln und Türme wie eine Fata Morgana, wie ein Lichtbild schwebt. Durch die ansteigende Kurve der vom Monte Oliveto ausgehenden Mauer erscheinen Domkuppel und Campanile wie emporgehoben, als stünden sie auf einem Hügel, hoch über dem Rest der Stadt. Charakteristisch auch Die Behelfsbrücke über dem Arno (Venedig 2015), mit dem Turm des Palazzo della Signoria und der eisernen Behelfsbrücke im Vordergrund. Das klassische Profil der Stadt in größter Vereinfachung, in Kombination mit dem zierlichen Versatzstück moderner Eisenkonstruktion. Schließlich ein Pastell der Kirche d’Ognissanti (Berlin 2001, S. 30), auch am Arno gelegen, in spätnachmittäglicher Hitze, geradezu von der Sonne verfinstert. Der Bodensatz des tiefsten Schweigens wird hier erreicht. Fast ist es so, als würde alles Einzelne, alle Details von Farbe und Formen, im Schweigen der Dinge untergehen.
Staudes Malerei bewegt sich, wie wir sahen, auf der Grenzlinie zwischen gegenständlicher Festigkeit und sich verselbständigender farbiger Erscheinung. Von besonderer Reinheit und Schönheit sind die Bilder Florentiner Straßen und Plätze aus den 40er und den 50er Jahren. Staude, der sich der Schwierigkeiten der Ölmalerei bewusst war, sah sich zu besonderer Bestimmtheit und Nuancierung genötigt, zu einem Zusammengehen von Geduld, Entschiedenheit und Geistesgegenwart, denen das besondere Niveau dieser Bilder zu verdanken ist. Es ist leicht, in diesen Bildern das Echo des französischen Impressionismus zu entdecken. Die Gießerei aus der Sammlung der Galleria d’Arte Moderna im Palazzo Pitti etwa mag an die besten Bilder von Pissarro erinnern. Doch hat Staude sich von einer eklektischen Übernahme impressionistischer Techniken freigehalten und seine Handhabung von Farbe und Pinsel in der Auseinandersetzung mit der Sache entwickelt. Seine großzügige Auffassung der Form verbindet sich mit einem Sinn für farbige Abstufungen, Verschleifungen und Übergänge, die ihn vor der unruhigen Kleinteiligkeit späterer impressionistischer Produkte bewahrt.
Staude bevorzugte, vor allem in den Nachkriegsjahren, die Motive, die sich ihm in seiner unmittelbaren Umgebung boten, die Straßen und Plätze um Bellosguardo und im Umkreis der Porta Romana, wo er die Logik der Farben und Formen, der Stille, des Lichts und der Tageszeiten jederzeit studieren konnte. Und wo diese Logik mit besonderer Reinheit hervortreten konnte, frei von allen Zutaten des Pittoresken, Literarischen oder touristisch Interessanten. Die trübe Verhaltenheit mancher dieser häufig eher kleinformatigen Bilder, der Bauernwagen auf der Via di Marignolle (Galerie), die Via de‘ Serragli, ihre spröde Poesie, können in mancher Hinsicht an den neorealistischen Nachkriegsfilm erinnern.
Auch in den frühen Venedig-Bildern finden wir manchmal einen aschfarbenen Ton, eine Zurückhaltung, die dem üblichen Venedigbild nicht entspricht. Jedoch hat Staude auch in seinen leuchtenden Venedig-Porträts – vor allem in den Pastellen – die berühmte Stadt von ihrem pittoresken Flair befreit. Sein in Florenz geschulter Sinn für große Formen lässt die großartigen und monumentalen Züge Venedigs sichtbar werden. Anders als bei Turner und Monet in deren Venedig-Darstellungen, die auf das Atmosphärische und Verfließende gerichtet sind, auf Wasser, Dunst und Wolken – bei Turner wird die Stadt eher geahnt als wirklich gesehen –, entsteht bei Staude Venedig als Bauwerk vor den Augen des Betrachters, jedoch als Bauwerk aus farbigem Licht, aus farbigen Leuchtkörpern, wie man sagen möchte. Seine Pastellbilder der Kirche San Geremia nehmen die Praxis Monets auf, ein und dasselbe Motiv in verschiedenen Beleuchtungen zu zeigen (siehe auch Galerie). Doch vermeidet Staude die monetsche Zerlegung der Form in kleine Partikel, die der Leuchtkraft der Farbe häufig eher hinderlich ist. Er verstärkt vielmehr die kubische Massigkeit des architektonischen Ensembles und dies kommt der Intensität von Farbe und Licht auf ungeahnte Weise zugute. Vor dem geduldigen Auge des Malers verkehren sich alle Schattenzonen in Farbräume, ja entfalten eine verdeckte Glut, die Venedig in eine orientalische Zauberstadt verwandelt, ein Eindruck, der ohne alle literarische und pittoresken Zufügungen erzielt wird.
Auch Rom, vor allem seine modernen Vorstädte, in ihrer Verbindung des Ländlichen mit dem Modernen, und immer wieder die weißen oder auch weinrot getünchten Wohnblöcke, die in Staudes Darstellung an nordafrikanische Städte erinnern können, waren dem Maler ein Gegenstand der Inspiration, bevor der wachsende Verkehr ihm das Malen dort unmöglich machte.
Ein Bild von geradezu klassischer Allüre ist die Römische Straße im Abendlicht. Dieses Rom-Gemälde mit seiner schweren Schattenmasse von Mauer und Zypressen links, seinem Lila und Violett, seinen türkisgrünen Schatten auf dem lachsfarbenen Haus, seiner nur von wenigen Fußgängern bevölkerten Straße, gibt uns ein Bild vom römischen Lebensgefühl, wie man es heute nur noch selten erfahren kann.
Das Rom der großen Monumente schlug Staude ebenso sehr in seinen Bann, wie das der modernen Wohnblöcke, die seinem Ideal kubischer Vereinfachung besonders entgegenkamen. Wir sehen ein Stück der leuchtenden Fassade der Peterskirche vor uns, den Brunnen, ein Stück der Kolonnade von Bernini, wie vom Teleobjektiv ineinander geschoben (Galerie). Oder die Piazza Navona in der Dämmerung (Berlin 2001, S. 33), als ein schattenhaftes, geisterhaftes Gewimmel von Formen, die Villa Borghese, die Kirche von Santa Trinità dei Monti (Galerie), Santa Maria dei Miracoli oder Villa Medici.
In Bezug auf Staudes letzte Bilder hat man von seiner ‚grünen Phase‘ gesprochen. Betrachtet man die Aufeinanderfolge der Sujets in seinem Werk, so kann man in ihr die Kurve eines Rückzugs entdecken. Eines Rückzugs aus den Stadtzentren in die Vorstädte und in den Stadtpark Le Cascine, aus den Vorstädten in die Stille des Gartens und der Gebirgslandschaften des Apennins. Die Städte verschwinden als Themen und nicht zuletzt deshalb, weil es immer unmöglicher wurde, auf den überfüllten Straßen noch eine Staffelei aufzustellen. So haben Staudes Städtebilder gerade in ihrer künstlerischen Eigenart auch eine dokumentarische Bedeutung: Sie halten ein Bild von Florenz, Venedig und Rom fest, das verschüttet zu werden droht und das in ursprünglicher Form nur in seinen Bildern weiterlebt. Aller wunderbaren Möglichkeiten von Film und Photographie unbeschadet, ist es wohl nur die schon oft totgesagte Malerei, die jene besondere Tuchfühlung mit der Sache möglich macht, wodurch das Bild des Eigenlebens der Stadt alten Stils für uns erfahrbar bleibt.
Staude hat sich, ähnlich wie der alte Monet, aus der Stadt in die Mauern seines Gartens zurückgezogen, den er aus spärlichen Anfängen in ein fruchtbares, farbiges Chaos verwandelte (Galerie, Venedig 2015). Auf seinen Bildern erscheint der Garten größer und mächtiger als er in Wirklichkeit war. Er erinnert, mit seinen giftigen Grüns, seinen Blüten und seinen Durchblicken ins Dunkel an Klingsors Zaubergarten aus Wagners Parsifal. (Der stehende Klang seiner Pastelle lässt jedoch vor allem an Debussys ‚musikalische Bilder‘ denken.) Auch Staudes Blumenbilder zeugen von jener Gartenliebe (Galerie).
In Castagno d’Andrea, dem Geburtsort des Quattrocento-Malers Andrea del Castagno im toskanischen Apennin, entstand Staudes letzte bedeutende Bilderserie (siehe auch Galerie). Das Dorf Castagno mit seinen hellroten Ziegeldächern kam seinem doppelten Streben, dem Streben nach kubischer Vereinfachung und dem nach farbiger Leuchtkraft, entgegen. In den Darstellungen der offenen Landschaft macht sich jedoch ein neues Formgefühl geltend. Die ’große Form‘, der Staude sein Leben lang nachging, beginnt nun ihr Eigenleben zu entfalten. Die Bäume verschmelzen zu zoomorphen Baumgruppen, zu plastischen Gebilden, die nicht zu ewiger Dauer erstarrt sind, sondern im Begriff sind sich zu verwandeln und neue Gestalten anzunehmen. In den Apennin-Bildern herrscht eine Tendenz zur ständigen Metamorphose, zu stets neuer ’Gestaltung und Umgestaltung‘, die der Künstler selbst ebenso wie die manchmal giftige Farbigkeit als neuartig empfunden hat [8].
Besonders beglückt war Staude von der auf seine Castagno-Landschaften bezüglichen Bemerkung eines ’Mannes aus dem Volk‘, wohl eines der früher in Florenz zahlreich anzutreffenden Handwerker, deren scharfe Beobachtungsgabe und treffenden Wortgebrauch Staude besonders schätzte. Angesichts eines der wenigen großformatigen Bilder aus Castagno fühlte dieser Mann sich an den Rhythmus der Weltentstehung erinnert, der sich vom Himmel und den Felsmassiven im Hintergrund über die bewaldeten Hügel bis zu den Baumgruppen im Vordergrund erstreckt. Manche der Pastelle aus Castagno überraschen vor allem mit ihrer dem Naturvorbild abgewonnenen Irrealität. Die Natur erscheint hier merkwürdig entwirklicht und entstofflicht, innerlich bewegt und in helle Fieberfarben, Lila, Mauve, Hellgrün und Gelbgrün getaucht, sich der Auflösung nähernd. Diese Bilderserie war Staudes letzte große Unternehmung. Die Krankheit, der er schließlich erlag, hat er sich vermutlich durch den ständigen Umgang mit dem wohl von ihm besonders geliebten Malmedium zugezogen: dem Staub der Pastellkreide.
Immer wieder hat Staude sich, mal beunruhigt, mal belustigt mit der Frage nach seiner eigenen Modernität oder seiner eigenen Zeitgemäßheit und Ungezeitgemäßheit beschäftigt. Besonders nach dem Zweiten Weltkrieg geriet der Maler in der Kunstwelt mehr und mehr in Isolierung. Zuspruch und Bewunderung seiner Kunst erfuhr er von manchen italienischen Kollegen seiner Generation, von Jüngeren, vor allem jedoch aus Kreisen, die nicht eigentlich der Welt der bildenden Kunst angehörten. Insbesondere verbanden ihn freundschaftliche Beziehungen zu dem Philosophen Giorgio Colli und dem Komponisten Luigi Dallapiccola, die ebenso wie auch der Pianist Géza Anda, aus Gründen innerer Verwandtschaft Staudes diskrete und leuchtende Kunst zu schätzen wussten und Bilder von ihm besaßen.
Was nun das Wesen der ,Modernität‘ betrifft, so sehen wir jetzt deutlicher als früher, dass die Kunst der Moderne – und nicht nur der ,Postmoderne‘ – durch Pluralität und Ungleichzeitigkeit gekennzeichnet ist [9]. Dass die ,moderne Kunst‘ (die mit der Kunst im 20. Jahrhunderts nicht zusammenfällt) nicht einfach durch das von Theodor Adorno, von Gilles Deleuze, und dem amerikanischen Kunstkritiker Clement Greenberg (auch Arthur Danto ist zu nennen) entworfene Schema eines mehr oder weniger linearen Fortschritts beschrieben werden kann, das vom Kubismus zu Rothko und Barnett Newman reicht, dürfte mittlerweile unbestritten sein. So groß die Verdienste der genannten Kritiker und Philosophen für ein Verständnis der modernen Kunstbewegung auch sind, so haben sie doch wohl auch einem vereinfachenden Bild der modernen Kunstgeschichte den Weg geebnet. Die Ungleichzeitigkeit des Verwandten und die Gleichzeitigkeit des Nichtzusammengehörigen konnte hierbei aus dem Blickfeld geraten. Während Morandi seine kostbar wirkenden kleinen staubfarbenen Stilleben malte, erreichte die nichtfigurative Malerei in den Werken von Pollock, Rothko und Gorky einen ihrer Höhepunkte. So kennt das 20. Jahrhundert ein Nebeneinander derart verschiedenartiger bedeutender Künstler wie Schwitters, Beckmann, Bonnard und Edward Hopper, ein Nebeneinander des Figurativen und Nichtfigurativen, von Materialkunst und altmeisterlicher Malkultur. Einem Bilde linearer Entwicklung entspricht dies wohl kaum. Bereits Adorno war sich dieser Disparatheit und vor allem auch der Verluste bewusst, die mit dem künstlerischen ’Fortschritt‘ verbunden waren. Daher sein Eintreten für vergessene Komponisten der Moderne und Frühmoderne. Auch Staude gehört zu diesen Vergessenen. Die Neigung vieler bedeutender moderner Künstler zum Extrem, zum Bruch mit der Überlieferung blieb seiner Kunst, die lyrisch, aber nie idyllisch ist, fremd.
Worin besteht Staudes Modernität? Zunächst wohl in der Einsamkeit, mit der er sein Projekt, das aus der Auseinandersetzung mit seinen großen Vorgängern und der Tradition erwuchs, verfolgte. Zum andern in der immer weiter getriebenen Emanzipation der Farbe und der wohl nur für ihn charakteristischen Verbindung von chromatischer Leuchtkraft mit einem großzügigen Verständnis der plastischen Form. Schließlich aber ist es das Schweigen, das sich seiner Bilder zunehmend bemächtigt, das ihnen das Signum der Modernität aufdrückt. Hans-Georg Gadamer, Theodor W. Adorno, Arnold Gehlen und andere haben auf die Neigung der modernen Kunst zum Verstummen hingewiesen. Dieses Schweigen kann in vielen Gestalten auftreten. Als Schweigen des Kommunikationsverlustes, aber auch in der Form des Verlangens, das ursprüngliche Schweigen der Natur, der Schöpfung, wieder herzustellen. Beide Arten des Schweigens, sind in Staudes Werk anzutreffen, wenn auch in unterschiedlicher Gewichtung. Der Welt ihr ursprüngliches Schweigen zurückzugeben, war eine seiner zentralen Absichten. Was seinem Werk seinen besonderen Zauber verleiht, ist seine Liebe für die farbige Erscheinung; sein Verlangen, wie Nietzsche es ausdrückte, nach dem „Glück eines Auges, vor dem das Meer des Daseins stille geworden ist, und das nun an seiner Oberfläche und an dieser bunten, zarten, schaudernden Meeres-Haut sich nicht mehr satt sehen kann“. [10], [11]
Pitti 1996, Berlin 2001 und Venezia 2015 verweisen auf die Kataloge der Ausstellungen im Palazzo Pitti 1996, in der Spandauer Zitadelle, Berlin 2001 und in der Fondazione Cini, Venedig 2015 (siehe Bibliographie); ‚Galerie’ verweist auf den entsprechenden Abschnitt in dieser Webseite.
Thomas Baumeister hat an der Universität di Nimwegen Geschichte der modernen Philosophie und Ästhetik gelehrt.
Der Aufsatz erschien erstmals im Katalog “Hans-Joachim Staude. Gemälde und Pastelle”zur Ausstellung “Hans-Joachim Staude. Poet des südlichen Lichts” in der Spandauer Zitadelle, Berlin, 4. Mai – 29. Juni 2001.